Als die D-Mark vom Himmel fiel

Ein Text von Christian Gesellmann

Mal angenommen, du findest 100 Euro auf der Straße. Einfach so. Du schaust natürlich, ob da jemand ist, der sie verloren haben könnte. Aber da ist niemand. Du steckst die 100 Euro ein. Ein Geschenk, das vom Himmel fiel, quasi. Wie würdest du dieses Geld ausgeben? Würdest du es auf dein Konto einzahlen? Jemanden zum Essen einladen? Dir etwas Schönes kaufen? Oder etwas Nützliches? Oder etwas für jemand anderen?

Die 100 D-Mark Begrüßungsgeld, die sich DDR-Bürger nach der Einreise in die BRD auszahlen lassen konnten, waren kein Geschenk, das vom Himmel fiel; kein Geld, das auf der Straße lag. Aber ich stelle mir vor, dass es sich ein wenig so angefühlt hat. Was sich die Millionen Ostdeutschen kurz nach dem Mauerfall von ihrem Begrüßungsgeld kauften, von diesen verheißungsvollen “100 Mark West”, hat aufmerksame Beobachter allein deshalb schon immer interessiert, weil sich hier so glücklich die Rahmenbedingungen für ein soziologisches Experiment ergeben hatten:

Vielleicht könnte man aus einer Katalogisierung dieser Kaufhandlungen etwas Allgemeingültiges darüber ablesen, wonach die Menschen sich in diesem außergewöhnlichen historischen Moment sehnten, was ihnen fehlte, was sie sich wünschten, was sie brauchten, was sie wußten - oder auch nicht? Ließe sich darüber vielleicht etwas über das Leben in der DDR aussagen, oder über die Vorstellungen vom Leben in der BRD?

30 Jahre nach der Wende hat die Fotografin Sophie Kirchner, geboren 1984 in Ost-Berlin, Ostdeutsche gebeten, ihr zu zeigen, was sie sich von ihrem Begrüßungsgeld gekauft haben. Sie hat sie zuhause besucht und gebeten sich zu erinnern, welche Gedanken sie dabei hatten, damals. Vor allem, sagt sie, ist das für sie ein ganz persönlicher Versuch gewesen, mit Zeitzeugen jener transformativen Jahre ins Gespräch zu kommen.

Denn gerade für uns Wendekinder - auch ich bin 1984 in Ostdeutschland geboren - kollidieren im Reden über die Wende zwei Narrative: die eloquente Erzählung über die gelungene Wiedervereinigung und den Glücksfall der Friedlichen Revolution, die wir aus den Medien und Geschichtsbüchern kennen, auf der einen Seite. Und die wortkargen Klagen über einen “Anschluss” oder die “Aneignung” eines verschwundenen, vage vermissten Staates, den wir aus den seltenen Kommentaren unserer Eltern kennen.

Es kollidieren aber auch zwei Gefühle: nämlich einmal das Gefühl einer Entwurzelung, eines Andersseins. Und andererseits das Gefühl, Glück gehabt zu haben: das Glück der Freiheit - ein Privileg, für das wir besonders sensibel sind, weil wir wissen, dass es nicht selbstverständlich ist.

Sophie Kirchners Fotoserie “Träume aus Papier” ist deshalb nicht einfach ein Inventar der Sehnsüchte und Nöte der Ostdeutschen. Es ist eine dialogische Arbeit, die es schafft, den Akt des Erinnerns selbst sichtbar, wenn man will, lesbar zu machen. Auf der einen Seite inszeniert sie die Gegenstände. Auf der anderen portraitiert sie ihre Besitzer genau in dem Moment, in dem die Erinnerung an die Wendezeit durch das lange Gespräch mit der Fotografin in besonderem Maße präsent ist.

Eingeführt worden ist das Begrüßungsgeld bereits 1970, nach dem die von Bundeskanzler Willy Brandt und dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph unterzeichneten Ostverträge es möglich machten, dass zumindest einige Ostdeutsche ab und zu mal in den Westen reisen konnten. Hauptsächlich Rentner.

Wenn man anhand ihrer „Geschenke“ etwas über die DDR lernen könnte, dann vielleicht, dass ihre Gaben meist konditioniert, oft vergiftet waren. So verbot sie den Ausreisenden, mehr als 70 Mark der DDR in den Westen mitzunehmen. Das ist der Hintergrund, vor dem das sogenannte Begrüßungsgeld vor 50 Jahren eingeführt wurde. Es betrug 30 DM, ein aufmerksamer bundesrepublikanischer Beitrag für die Portokasse der von ihrem eigenen Staat schikanierten Ossis, den sie sich gegen Vorlage ihrer Papiere auszahlen lassen konnten.

Bis 1984 zahlte die Bundesrepublik das Begrüßungsgeld 40.000 bis 60.000 mal pro Jahr aus. Was diese Zahl auch aussagt, und die Beharrlichkeit des gegenseitigen Missverstehens vielleicht miterklärt: wie wenig echten Kontakt die Einwohner der beiden deutschen Staaten über Jahrzehnte hatten. Heute gibt es wahrscheinlich an jedem (coronafreien) Fußballwochenende mehr innerdeutsche Pendelei. Nach 1984 „erleichterte“ - so der gängige Euphemismus - die DDR weiteren ihrer Bürger die Ausreise. Und immer mehr machten davon Gebrauch, viele im Wissen, dass ein solcher Besuch immer seriösen Stunk mit der Stasi auf den Schirm rufen konnte. 1987 holten sich bereits 1,3 Millionen Ostdeutsche ihr Begrüßungsgeld im Westen ab - und die BRD erhöhte ihr kleines Geschenk an die Reiseerlaubten auf 100 DM. Eine anlassbezogene Großzügigkeit, denn die DDR hatte ihrerseits das erlaubte Reisebudget ihrer Bürger weiter reduziert - auf nur noch 15 Mark Ost.

So war die DDR, sie behandelte ihre Bürger wie ungezogene Kinder. Wer den Arbeiter-und-Bauern-Staat durch seine Westreisegelüste demütigte, der sollte seinerseits durch Mittellosigkeit im Westen gedemütigt werden.

Die BRD wiederum übernahm - um im Bild zu bleiben - die Rolle der Großeltern, die den Enkeln etwas extra Taschengeld zustecken, um noch lieber besucht zu werden. Wenn man anhand ihrer „Geschenke“ etwas über die BRD lernen könnte, dann vielleicht die Tatsache, dass ihre Gaben als “Anreize” und “Steuerungsimpulse” zu verstehen sind. Die psychologische Sogwirkung, die „100 Mark West“ hinter der graueren Seite der Grenze auszulösen imstande waren, zumal die DDR-Währung immer weiter verfiel, war den Politikern in Bonn bewusst. Allein im Jahr 1988 gab sie rund 260 Millionen DM für das Begrüßungsgeld aus. Es ist genug für alle da, war die Botschaft der tiefenentspannten Bonner Solidarität.

Die gleiche Summe war dann auch für 1989 im Haushalt eingeplant - doch es kam anders. Massendemonstrationen, Mauerfall, Besetzung der Stasi-Zentralen, Selbstauflösung der DDR. Mancher westdeutscher Bürgermeister wurde unmittelbar nach der Grenzöffnung aus dem Bett geklingelt, weil frierende Ostdeutsche im Morgengrauen vor seinem Rathaus standen, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen, vor manchen westdeutschen Sparkassen reihten sich bis zu 10.000 DDR-Bürger aneinander.

In einem der schönsten Momente deutscher Geschichte, wurde die Bundesrepublik plötzlich völlig undeutsch: Alle Bürokratie war vergessen. Allein in den ersten drei Wochen nach dem Mauerfall sollen sich rund 18 Millionen Menschen Begrüßungsgeld abgeholt haben. Dabei hatte die DDR nur 16 Millionen Einwohner. Noch vor Ablauf des Jahres 1989 wurde das Geschenk, für das es keinen Anlass mehr gab, wieder abgeschafft.

Mal angenommen, du findest 100 Euro auf der Straße. Wie würdest du dieses Geld ausgeben? Würdest du es auf dein Konto einzahlen? Jemanden zum Essen einladen? Dir etwas Schönes kaufen? Oder etwas Nützliches? Oder etwas für jemand anderen?