Träume aus Papier
Die Bilder des Mauerfalls haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen einprägt. Die triste, graue DDR wird plötzlich Farbe, fast so, wie im Zauberer von Oz – ab jetzt war Technicolor. Doch diese simplen Bilder werfen in mir auch Fragen auf. Fragen nach den individuellen Erlebnissen und Empfindungen der Ostdeutschen zu dieser Zeit. Fragen nach meiner eigenen Herkunft und der Dissonanz zwischen meinen Erfahrungen als Wendekind, und den Erfahrungen anderer Ostdeutscher zu jener Zeit, als die Mauer fiel.
Fast drei Jahrzehnte verwehrte das SED-Regime den Menschen in Ostdeutschland den Weg in den Westen. Es war ein bewegender und vor- allem friedlicher Befreiungsschlag, den die Ostdeutschen aus eigener Kraft vollzogen haben. Das Begrüßungsgeld diente als eine Unterstützung, die in der Bundesrepublik Deutschland jedem einreisenden DDR-Bürger aus Mitteln des Bundeshaushaltes gewährt wurde. Es wurde 1970 in Höhe von 30 DM eingeführt und 1987 auf 100 DM erhöht. Besondere Bedeutung erlangte das Begrüßungsgeld infolge der Öffnung der Mauer 1989.
Im Rahmen meiner Fotoarbeit führte ich intensive Gespräche mit den Protagonisten darüber, wie die Geste des Begrüßungsgeldes von ihnen empfunden wurde. Ich gewann den Eindruck, dass die Schenkung von 100 DM recht gemischte Reaktionen und Gefühle bei vielen auslöste. Es gab die Freude darüber, in der Lage zu sein, sich einen kleinen Konsumtraum zu verwirklichen, aber auch Empfindungen der Scham, Verlegenheit, oder gar Bloßstellung. Die Entscheidung, was von dem Geld gekauft wurde, stellt in meinen Augen einen Ausgangspunkt dar für Projektionen und Sehnsüchte der Menschen. Daher entschied ich mich, in Zusammenspiel mit den Portraits, auch die Objekte zu fotografieren welche von dem Geld erworben wurden.
Die Auseinandersetzung mit den Gegenständen, 30 Jahre danach, schafft einen neuen Dialog hinsichtlich einer ostdeutschen Erinnerungskultur. Sie ermöglicht den Menschen Bilanz zu ziehen, die vergangenen 30 Jahre für sich einzuordnen und ihren ganz individuellen Weg, den sie seit der Wende beschritten haben, zu reflektieren. Darüberhinaus bietet sie Einblick in die Gefühlswelt der Ostdeutschen. Es gibt Studien und Statistiken über die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen des Mauerfalls. Für mich jedoch ist interessanter, die persönliche Sicht der Menschen zu erforschen. Es ist wichtig den Menschen, die die DDR und den Mauerfall erlebt haben, den Raum zu geben ihre Geschichten zu erzählen. An diesem Punkten knüpft meine Arbeit an.
Nach dem zweiten Weltkrieg begann die 68er-Generation, Fragen zu stellen. Sie war der Motor, der die Auseinandersetzung der NS-Zeit ankurbelte. 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es nun die Aufgabe meiner Generation, eine Aufarbeitung der DDR-Zeit anzustoßen und gemeinsame Dialoge über die Vergangenheit zu eröffnen. Ich bin 1984 in Ost-Berlin geboren und gehöre zur Generation der “Wendekinder”. Ich betrachte die Auseinandersetzung mit der Wendezeit nicht nur als ein Herantasten an meine eigene Biografie, sondern auch als identitätsstiftend für Ostdeutsche selbst. Im Sinne eines gesamtdeutschen Dialogs. Darüber hinaus schaffen Arbeiten wie diese einen Identifikationsfaktor, weil es um persönliche Geschichten geht. Durch das einanderzuhören, erzählen, verstehen und anerkennen besteht die Chance, dass sich Menschen wieder mehr aufeinander zubewegen, anstatt voneinander abzudriften. Und vielleicht entsteht am Ende daraus sogar etwas Neues.
Als die D-Mark vom Himmel fiel. Ein Text von Christian Gesellmann.